Mein letzter Holzschlag

​​​​​​​Urdorf, im Frühjahr 1987

Mein letzter Holzschlag, ganz allein, der Förster kommt nur alle zwei bis drei Tage vorbei, um den Fortgang der Arbeit zu besichtigen und die geschlagenen Stämme einzumessen, zu qualifizieren und für den Verkauf vorzubereiten. Er ist wie üblich in diesen Tagen schlecht gelaunt, spricht kein Wort mit mir, ruft mich - wie die letzten male auch - zu sich, um kurz und bündig zu sagen: «Du hast wieder vermessen, Sternchen nochmal!» Dann rauscht er ab, den Bann über mir lassend. 

Ich messe ungläubig nach, messe nochmals und nochmals, kontrolliere mein Messband auf Fehler. Es stimmt. Der Stamm ist wieder zu kurz abgesägt, obwohl ich vor dem Schnitt viermal gemessen habe, um ja nicht wieder falsch zu schneiden. Wieder mehrere hundert Franken Schaden angerichtet. Ich bin zerknirscht, verunsichert, wütend - aber auf wen? 

In diesem Holzschlag stehen Fichten auf einem leicht abfallenden Gelände. Ich soll sie hinunter Richtung Waldweg fällen, sie stehen bolzengerade, alles kein Problem. Doch acht der Bäume fallen 180 Grad nach hinten mitten in einen Lärchenjungwuchs, was natürlich beträchtlichen Schaden anrichtet. Die Waldbesitzer, der Förster, die helfenden Bauern, welche mit ihrem Traktor die gefällten Stämme aus dem Schlag ziehen; alle verstummen, sagen nichts mehr zur Katastrophe, welche sich da vor ihren Augen abspielt und jeden Tag zunimmt.

Eines Tages dann der erlösende Unfall. Der straff gespannte Seilzug an einer geradestehenden Fichte reisst, der Hebel des Zugapparates schlägt mir auf den Daumenballen. Dieser nimmt sofort die Grösse eines Tennisballs an. Fertig gearbeitet. Die anderen räumen noch auf, während ich krankgeschrieben bin. Ich schäme mich halb zu Tode, möchte am liebsten in den Boden versinken. Ich habe schlimmer als irgendein Nichtskönner gearbeitet.

Ein halbes Jahr später gelingt es mir, auch durch die Erfahrung mit einem Baum, mich mit zurück erhaltenem Gesicht aus dem Waldarbeiterberuf zu verabschieden. Zu diesem Zeitpunkt habe ich schon den ersten Teil der mehrtägigen Zulassungsprüfung zur Försterschule in Lyss absolviert. Doch meine Rückenschmerzen sind übermächtig, ich kann nicht mehr. 

Bei diesem Baum, welcher ganz nahe am ehemaligen Holzschlag steht, handelt es sich um eine mächtige Buche. Vier Männer mit ausgestreckten Armen können sie gerade knapp umfassen. Die Krone ist riesig, ein Allerweltsbaum. Die anderen Profis und die Bauern wollen mich den nicht umtun lassen, weil sie ja von meinem Schandschlag wissen. Ich bestehe darauf, natürlich auch, um meine Ehre als Forstwart zu retten, aber auch deshalb, weil ich meine Angst, wieder zu versagen, überwinden will. 

Die Fällaktion ist äusserst knifflig, der Baum muss ums Eck gefällt werden, was höchste Konzentration und Wissen voraussetzt. Ich spreche mit dem Baum. Ich sage ihm, dass der, welcher mich hier ihn fällen lässt, mich eines Tages fällen wird. Ich sage ihm, dass es mir leid tut und bitte ihn, mir zu verzeihen. Ich bitte ihn, mir zu helfen, dass ich meine Angst überwinden und meine Ehre wieder herstellen kann. Der Baum hilft mir. Er fällt um die Ecke, macht dabei nichts kaputt, mit was niemand gerechnet hat. Er liegt auf den Zentimeter genau auf der Stelle, wohin er fallen sollte. Nicht nur ich bin sprachlos. Auch dieses Mal bleiben sie stumm, meine Profi-Kameraden. Der Spott bleibt ihnen im Halse stecken.

Trotz dieses Erfolges gelingt es mir danach dreizehn Jahre lang nicht, an diesen Ort zurückzukehren. Fast gleich lang kann ich darüber nicht einmal reden. Ich schäme mich zu sehr und zudem kann ich nicht erklären, was da abging. Doch heute weiss ich es, und darum gelingt es mir, zurückkehren.


In meiner Zeit als Forstwart wusste ich wenig von der Existenz von Waldgeistern, geschweige denn von Ortsgeistern. Als ich nun ein Ritual abhalte, um mich mit dem Ortsgeist zu versöhnen, spüre ich plötzlich eine starke Kraft um mich, welche sich am Ende des Rituals als Waldgeist zu erkennen geben wird. Er führt mich kreuz und quer durch die 13 Jahre alten Laubbäumchen, ein ziemliches Dickicht. Ich begreife: Ich streife die alte Geschichte ab. 

Plötzlich sind da viele kleine Baumgeister, welche begeistert klatschen. Doch ich verstehe erst, als mich der Waldgeist zu einem umgestürzten, in dem Dickicht liegenden Baum bringt. Da setzt er sich darauf, lacht und sagt: 

«Du hast die Arbeit des Windes gemacht, wenn auch ein paar Jahre zu früh! Wir danken Dir, denn schau die Jungschar an! Die Lärchen wachsen auch immer noch, trotz des Schadens, den es damals gegeben hat. Ich hatte dir übel zugesetzt! Nun hast auch du eine Jungmannschaft. Es ist doch schön, dass wir uns so wieder treffen! Alles hat sich zum Guten gewandt!» 

Darauf verschwindet er, das Dickicht rauscht im Wind und es ist mir, als ob ich die Baumkinder immer noch lachen und klatschen höre. Die haben mich tatsächlich als ihren Schöpfer gefeiert! Ich bin erschüttert.

Ich macht mich auf den Weg zurück zu meiner Familie und zu unserem Auto und höre die Kleinen schon von weitem streiten. Als ich unmittelbar neben meinem alten Holzschlag aus dem Dickicht trete, gelange ich auf eine grosse, leere Fläche. Beim genauen Betrachten kann ich erkennen, dass hier vor wenigen Jahren der Wind geholzt hatte. So wie es der Waldgeist gesagt hatte.

Nun, was soll ich da noch beifügen. Ich bin dankbar, dass mich die Bäume immer noch lehren.​​​​​​​

Urdorf, im Frühjahr 2000

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